Schweiz – EU: Ziemlich beste Freunde? Oder doch nicht?

Sehr geehrte AGV-Mitglieder

Am 27. September 2020 stimmt das Schweizer Stimmvolk unter anderem über die Kündigungsinitiative der SVP ab. Die Initiative stellt nicht nur den bilateralen Weg mit der Europäischen Union in Frage, sondern wird diesen bei einer Annahme beenden. Was steht wirklich auf dem Spiel? Die IHK St.Gallen-Appenzell macht einen Faktencheck.

 

Die Beziehung zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wurde in den letzten Jahren arg strapaziert. Nach der Masseneinwanderungs- und der Selbstbestimmungsinitiative wird sie im kommenden September mit der Kündigungsinitiative erneut hart auf die Probe gestellt. Durch die Guillotineklausel stehen die bilateralen Verträge I zwischen der Schweiz und der EU auf dem Spiel. Welche Folgen hätte eine Kündigung der bilateralen Verträge für den Wohlstand in der Schweiz und speziell in der Ostschweiz? Was bedeutet eine Kündigung für die hiesigen und stark exportorientierten Unternehmen? Welche Folgen bestehen für das Gewerbe? Und verdrängen ausländische Arbeitnehmer aus der EU wirklich inländische? – Es stellen sich einige zentrale Fragen. Die IHK St.Gallen-Appenzell macht den Faktencheck und beleuchtet in den kommenden Wochen bis zur Abstimmung regelmässig wichtige Fragestellungen rund um die Beziehung Schweiz-EU. Den Start macht heute die Frage «Wie schadet ein Ja zur Kündigungsinitiative der Ostschweiz?».

Wie schadet ein Ja zur Kündigungsinitiative der Ostschweiz?

Die Annahme der Kündigungsinitiative würde die Ostschweiz besonders schmerzhaft treffen. Durch ihre starke Verflechtung mit der EU resultiert ein allfälliges Ende der Bilateralen I in grösseren Einbussen für die Ostschweiz als für die gesamte Schweiz. Ausserdem sieht sich nicht nur der Exportsektor mit erheblichen Verlusten konfrontiert.

 

Ziemlich beste Nachbarn

Während die Schweiz im Ausland jeden zweiten Franken mit der EU verdient, sind es für die Ostschweiz mit rund zwei von drei Franken deutlich mehr. Der rege Austausch von Gütern und Dienstleistungen lässt sich vor allem anhand der geografischen Lage erklären: Mit Deutschland und Österreich grenzt die Ostschweiz an zwei wirtschaftlich starke EU-Mitgliedstaaten. Rund die Hälfte aller Exporte in die EU entfallen denn auch auf diese beiden Länder.

 

Teure Kündigung der Bilateralen I

Die starke wirtschaftliche Verflechtung mit unserer Nachbarin würde der Ostschweiz bei einem Ja zur Initiative allerdings zum Verhängnis. Eine Studie der BAK im Auftrag der IHK St.Gallen-Appenzell kommt zum Ergebnis, dass der Wegfall der Bilateralen I die Ostschweizer Wertschöpfung alleine im Jahr 2040 um 7.4 % beeinträchtigen würde. Am stärksten betroffen wäre der Thurgau mit einem Minus von 7.9 %. Zum Vergleich: Die Einbusse für das Schweizer BIP wird auf 6.5 % geschätzt. Anschaulicher werden diese Zahlen auf die Verluste pro Kopf heruntergebrochen. Im Jahr 2040 spürt jede Schweizerin und jeder Schweizer die Kündigung der Bilateralen I mit 4’280 Franken weniger im Portemonnaie. Auf die Ostschweiz heruntergebrochen sind es sogar 4’506 Franken pro Person. Alleine für 2040 entginge unserer Region so eine Wertschöpfung von 6 Milliarden Franken. Für den Zeitraum von 2030 bis 2040 beliefe sich die Einbusse auf 55 Milliarden Franken. Eine enorme Summe, die in etwa dem jährlichen Bruttoinlandprodukt Sloweniens entspricht.

 

Auch Binnenmarkt muss Federn lassen

Auch die vermeintlich binnenmarktorientierten Unternehmen profitieren vom regen Handel mit unserer grossen Nachbarin. Dafür sprechen insbesondere drei Gründe. Erstens werden
75 % der Vorleistungen der Schweizer Exporte hierzulande erbracht. Zweitens tragen die Exporte massgeblich zum (Ost)Schweizer Wohlstand bei. Die Einkommensströme aus dem Ausland kurbeln auch die Nachfrage in Sektoren des Binnenmarkts an. Schliesslich bringen die bilateralen Verträge mit der EU systemische Effekte mit sich, welche die Attraktivität der gesamten Wirtschaft erhöhen. Das Forschungsabkommen stärkt beispielsweise den Innovationsstandort Schweiz. Das Abkommen zum Luftverkehr trägt zur Standortattraktivität unseres Landes bei.

 

Zugang zum europäischen Binnenmarkt fundamental

Mit einem Exportanteil von 63.7 % ist die EU mit Abstand unsere wichtigste Handelspartnerin, und somit der Absatzmarkt der Ostschweizer Exportwirtschaft. Doch der Handel mit der EU ist noch viel mehr: eine wichtige Stütze der Wirtschaft und ein Garant von Arbeitsplätzen in der Region. Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt ist daher entscheidend für die Ostschweizer Wirtschaft. Ein Nein zur Begrenzungsinitiative ist daher ein Ja zu einer ziemlich besten Nachbarschaft.

 

Unterstützen Sie die Rheintaler Wirtschaft mit einem klaren „Nein“ zur Kündigungsinitiative!

Mit freundlichen Grüssen

Thomas Bolt, Geschäftsführer/Sekretär AGV Rheintal